6

Alex belud ihr Schneemobil und machte sich etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang mit Luna an Bord auf den Weg. Sie war immer noch durcheinander vom Bürgertreffen am Abend zuvor, und dieser Fremde wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen, der anscheinend einfach in der Wildnis verschwunden war, genauso unvermittelt, wie er im hinteren Teil der kleinen Holzkirche von Harmony aufgetaucht war.

Und warum war er auf der Versammlung gestern Abend der Einzige gewesen, der ihrem Bericht von dem Fußabdruck im Schnee bei der Ansiedlung der Toms zugehört hatte, ohne ihr das Gefühl zu geben, dass sie den Verstand verloren hatte?

Nicht dass das heute noch irgendwas bedeutete. Dieser große, dunkle, mysteriöse Fremde war längst wieder aus Harmony verschwunden, und Alex hatte den Schlitten mit so vielen Vorräten beladen, wie er tragen konnte - nur das Allernötigste für ein paar der Leute, die gestern leer ausgegangen waren, weil sie ihren Flug in die Wildnis hatte abbrechen müssen.

Jetzt blieben ihr noch knappe drei Stunden Tageslicht, und das Benzin im übergroßen Tank der Polaris und im Reservekanister reichte genau aus, um die hundert Meilen hin und zurück zu schaffen.

Eigentlich hatte sie keinen Grund, nach einer Stunde Fahrt einen Abstecher zur Ansiedlung der Toms zu machen. Keinen, außer ihrem nagenden Bedürfnis nach Antworten. Die Hoffnung, so vergeblich sie wohl auch war, dass sich dort vielleicht doch irgendeine Erklärung für die brutalen Morde finden ließ, die ohne blutige Fußspuren im Schnee und Erinnerungen an ihre eigene Privathölle auskam.

Als Alex das Schneemobil auf den zugewehten Pfad steuerte, der zu Toms' Laden führte, sprang Luna hinunter, um im frischen, glitzernden Pulverschnee zu toben.

„Bleib bei mir“, warnte Alex den lebhaften Wolfshund und drosselte das Tempo, als die kleine Ansammlung dicht gedrängter Blockhäuser in Sicht kam.

Als sie Luna beobachtete, die so gerne vorausgerannt wäre, hatte sie ein unwillkommenes Gefühl von Déjà-vu. Es war genau wie in diesem schrecklichen Moment vor drei Tagen, als sie die grausige Entdeckung von Teddys Leiche gemacht hatte.

Und genau wie an jenem Tag rannte Luna auch jetzt davon und ignorierte Alex, die ihr nachrief, dass sie warten sollte.

„Luna!“, rief Alex in die Stille des frühen Nachmittags. Sie stellte das Schneemobil ab und sprang hinunter, dann watete sie ärgerlich durch die tiefen Schneeverwehungen, die Luna kaum behinderten. „Luna!“

Einige Meter vor ihr rannte der Wolfshund die Verandastufen am Haus des alten Toms hinauf und verschwand darin. Was zum Teufel war das? Die Tür stand auf, obwohl Zach sichergegangen war, dass alles fest geschlossen war, bevor man die Leichen von Toms und seiner Familie fortgebracht hatte. Hatte der Wind die Tür aufgeweht?

Oder war hier seit den Morden etwas Gefährlicheres hindurchgefegt als eine arktische Böe?

„Luna“, sagte Alex, als sie sich vorsichtig der Blockhütte näherte, und hasste sich selbst für das kleine Zittern in ihrer Stimme. Ihr Herz begann zu rasen wie ein Presslufthammer. Sie schluckte schwer gegen ihre Beklommenheit und versuchte es noch mal. „Luna. Komm da raus, Mädchen.“

Sie hörte Bewegung im Haus, dann das Knarren und Knacken eines protestierenden Dielenbrettes. Entweder wegen der Kälte - oder da war einer mit ihrem Hund im Haus.

Wieder hörte sie eine Bewegung, dann näherten sich dem offenen Raum hinter der Tür Schritte. Ein Angstschauer kroch Alex' Nacken hinauf. Sie griff nach ihrer Pistole, die sie unter ihrem Anorak in einem Holster hinten im Kreuz trug. Sie zog die Waffe und hielt sie mit beiden Händen vor sich, gerade als Luna unbekümmert herausgetrottet kam, um Alex am Fuß der Treppe zu begrüßen.

Und hinter ihr, tiefer im Haus des alten Toms, war ein Mann - der dunkelhaarige Fremde aus der Kirche gestern Abend. Trotz der Kälte trug er nur eine weite Jeans, die er gerade lässig zuknöpfte, als wäre er eben erst aus dem Bett gekrochen.

Er begegnete Alex' ungläubigem Blick mit einer Seelenruhe, die sie unbegreiflich fand. Als wäre es völlig alltäglich für ihn, in den Lauf einer geladenen .45er zu starren.

 “Sie  sind das“, murmelte Alex, ihr Atem gefror vor ihr in der Luft. „Wer sind Sie? Was zur Hölle machen Sie hier draußen?“

Er stand reglos, ungerührt, im Hauptraum der Hütte. Statt ihre Fragen zu beantworten, zeigte er mit seinem starken, eckigen Kinn auf ihre Pistole.

„Plätten Sie vielleicht was dagegen, die woandershin zu halten?“

„Ja, hätte ich“, sagte sie. Ihr Puls hämmerte immer noch, und jetzt nicht mehr nur aus Angst.

Der Typ war Furcht einflößend, über eins neunzig groß, mit breiten, muskulösen Schultern und mächtigen Oberarmen, die aussahen, als könnte er damit mühelos einen Elchbullen stemmen. Unter einem ungewöhnlichen Muster von hennaroten Tattoos, die in einem kunstvollen Muster über seine Brust, Arme und seinen Oberkörper tanzten, hatte seine Haut die glatte, goldene Farbe der Inuit. Sein Haar schien ebenfalls auf diese Abstammung hinzuweisen, pechschwarz und glatt, der stachelig geschnittene Schopf wirkte so seidig wie ein Rabenflügel.

Nur seine Augen verrieten, dass er noch etwas anderes war. Sie waren von einem hellen, durchdringenden Silber, eingefasst von dicken, tintenschwarzen Wimpern, und hielten Alex in einem Griff gefangen, der fast körperlich war.

„Ich muss Sie bitten, aus dem Haus zu kommen, wo ich Sie sehen kann“, sagte sie. Ihr war gar nicht wohl in dieser Situation, und dieser Mann brachte sie aus dem Konzept. Obwohl sie sicher war, dass sie es nicht mit ihm aufnehmen konnte, Schusswaffe hin oder her, gab sie sich alle Mühe, Jennas knallharte Bullenstimme nachzuahmen. „Sofort. Raus aus dem Haus.“

Er legte den Kopfschief und sah an ihr vorbei, in den weichen Dunst des dünnen Nachmittagslichts hinaus. „Lieber nicht.“

Lieber nicht? Machte der Witze?

Alex spannte ihre Finger an, um die Pistole sicherer in der Hand zu haben, und er hob langsam die Hände, um seine friedlichen Absichten zu zeigen. „Da draußen sind zwanzig Grad minus. Männer können sich da lebenswichtige Organe abfrieren“, sagte er und hatte den Nerv, amüsiert zu grinsen. „Meine Kleider sind im Haus. Wie Sie sehen können, bin ich nicht für Gesellschaft angezogen. Oder für ein Schießduell in der Tundra.“

Durch seinen trockenen, unbekümmerten Humor verpuffte ihre Ängstlichkeit.

Fast.

Ohne ihre Antwort abzuwarten und ohne sich um die geladene Waffe zu kümmern, die immer noch auf ihn gerichtet war, drehte er sich um und verschwand im Haus.

Herr im Himmel, diese faszinierenden, seltsamen Tattoos zogen sich auch über seinen ganzen Rücken. Sie bewegten sich mit ihm, betonten die schlanken, harten Muskeln, die sich bei jedem Schritt zusammenzogen und dehnten.

„Sie brauchen auch nicht da draußen in der Kälte rumzustehen“, sagte er, und seine tiefe Stimme stellte irgendetwas Verrücktes mit ihrem Puls an, als er aus ihrem Blickfeld verschwand. „Packen Sie die Waffe weg, und kommen Sie rein, wenn Sie reden wollen.“

„Scheiße“, knurrte Alex verärgert.

Sie entspannte die Arme etwas, nicht ganz sicher, was gerade passiert war. Der Typ hatte vielleicht Nerven. War er so arrogant oder einfach verrückt?

Sie war kurz davor, einen Warnschuss abzufeuern, nur damit er merkte, wie ernst es ihr war, aber im selben Augenblick stieß Luna ein kurzes Winseln aus und sprang wieder die Treppe hinauf und hinter ihm ins Haus. Treulose Töle.

Mit einem gemurmelten Fluch senkte Alex die Pistole und ging vorsichtig zur Veranda und der offenen Tür des Hauses, das in den letzten Jahren fast ein zweites Zuhause für sie gewesen war. Doch als sie das Haus des alten Toms jetzt betrat, hätte es sich nicht fremder anfühlen können. Es fühlte sich völlig falsch an. Falsch in jeder Hinsicht.

Ohne die dröhnende Stimme des alten Toms, die sie beim Eintreten begrüßte, fühlte das Haus sich kälter, dunkler und leerer an. Zum Glück war hier nirgends Blut geflossen, weil er und Teddy entweder hinausgerannt oder von ihrem Mörder nach draußen getrieben worden waren, bevor es ihm gelungen war, sie einzufangen. Alles sah so aus, wie es immer ausgesehen hatte, aber nun fühlte es sich für Alex wie eine beklemmende, parallele Wirklichkeit an, die mit der Wirklichkeit, die sie kannte, kollidiert war.

Fehl am Platz in dem beengten Wohnzimmer war ein schwarzer Ledersack, der geöffnet auf dem Sofa mit dem orange-braunen Karomuster stand. Alex warf einen verstohlenen Blick hinein und bemerkte darin Kleider zum Wechseln und ein ziemlich übel aussehendes Jagdmesser, das, aus der Scheide gezogen, auf einem Paar schwarzer Drillichhosen lag, wie man sie bei der Armee trug.

Aber die glänzende, gezackte Klinge, die aussah, als könnte sie sogar mit einem Grizzlyfell fertig werden, war bloß ein kleiner Vorgeschmack auf den Rest des Waffenarsenals, das im Wohnzimmer des alten Toms ausgebreitet war.

Ein automatisches Gewehr mit abgesägtem Lauf lehnte in der Ecke neben der Tür. Daneben auf dem verschrammten Beistelltisch, den der alte Toms vor drei Jahrzehnten als Hochzeitsgeschenk für seine Frau geschreinert hatte, stand eine buchgroße Schachtel Spezialmunition. Die großen, glänzenden Hohlspitzenpatronen waren die Art Munition, die gnadenlos selbst zähestes Fleisch und Knochen zerfetzte, Tod der Jagdbeute garantiert. Daneben ruhte in einem schwarzen Brustholster eine weitere Pistole, eine halb automatische Neunmillimeter, mit der ihr .45 Revolver auch nicht annähernd mithalten konnte.

Für Alex, die den Großteil ihres Lebens in der Wildnis verbracht hatte, waren Waffen oder Jagdausrüstung kein ungewohnter Anblick, aber dieses persönliche Waffenarsenal erschreckte sie - genauso wie die Tatsache, dass der Mann, dem es gehörte, plötzlich lautlos zu ihr in den Raum zurückgekehrt war.

Sie sah auf. Er fuhr eben in ein Hemd aus dickem grauen Gamsleder und rollte die Ärmel auf. Er knöpfte es nach und nach zu, und die faszinierenden Tattoos verschwanden. In dem engen Raum erhaschte Alex den Duft von arktischer Luft und würzigen Fichten - und noch etwas anderes, Wilderes, das offenbar sein Körpergeruch war und schlagartig ihre Sinne weckte.

Gott, war sie schon so lange nicht mehr mit einem Mann zusammen gewesen, dass ihr Selbsterhaltungstrieb nicht mehr funktionierte? Das konnte ja wohl nicht wahr sein. Aber sie war nicht das einzige weibliche Wesen im Raum, das diesem Fremden verfiel, der letzte Nacht aus dem Nichts aufgetaucht war. Die treulose Luna hatte ihren Hintern bei seinen Füßen geparkt und sah hingebungsvoll zu ihm auf, bis er sich bückte und sie hinter den Ohren kraulte.

Normalerweise war der Wolfshund Fremden gegenüber vorsichtig und blieb auf Abstand - aber nicht bei ihm.

Wenn sie jemanden brauchte, der sich für den Charakter eines anderen verbürgte, war sie mit Lunas Instinkten eigentlich immer gut beraten gewesen.

Aber Alex hatte auch ihren eigenen inneren Radar, der ihr sagte, ob sie jemandem trauen konnte oder nicht, eine Art instinktiven Lügendetektor, den sie schon seit ihrer Kindheit besaß. Nur, damit der funktionierte, musste sie so nahe an denjenigen herankommen, dass sie ihn berühren konnte.

Normalerweise brauchte sie andere nur mit den Fingern zu streifen, um zu wissen, ob man sie anlog oder nicht.

So versucht sie auch war, dem Typen ihre Finger auf die nackte Haut zu legen - dazu müsste sie ihre Waffe niederlegen. Und zum jetzigen Zeitpunkt hielt sie das doch noch nicht für klug.

„Wer sind Sie?“, fragte Alex, gespannt, ob sie dieses Mal wohl eine Antwort bekommen würde. „Was haben Sie bei der Bürgerversammlung in Harmony gemacht, und was haben Sie hier draußen zu suchen? Falls Sie es noch nicht gemerkt haben, Sie gefährden hier Spuren an einem Tatort.“

„Ich habe es gemerkt. Und der Meter Neuschnee, der hier alles unter sich begraben hat, hat sie schon lange vor mir gefährdet“, sagte er unbekümmert.

Er rieb Luna mit seiner großen Hand immer noch über den Kopf und unter dem Kinn, und der Hund sabberte förmlich vor Behagen.

Alex hätte schwören können, dass etwas Unausgesprochenes zwischen Mann und Hund vorging, und dann stand Luna auf und kam zu Alex zurückgeschlendert, um ihr die Hand zu lecken.

„Kade“, stellte er sich vor und nagelte sie mit diesem scharfen, unverwandten, silbernen Blick fest. Er streckte ihr die Hand hin, aber Alex hatte noch nicht entschieden, ob sie ihm so weit trauen konnte. Er zögerte einen Augenblick, dann ließ er den Arm wieder sinken. „Soweit ich gestern Abend gehört habe, standen die Opfer Ihnen nahe. Mein Beileid, Alex.“

Es verunsicherte sie, mit welch unbekümmerter Vertrautheit er ihren Namen sagte. Und ihr gefiel auch gar nicht, wie seine Stimme und sein ungebetenes, unerwartetes Mitgefühl ihr mitten in die Brust drangen und ihre Sinne weckten. Sie kannte ihn gar nicht, und sein Mitgefühl konnte er sich sonst wo hinstecken.

„Sie sind nicht aus der Gegend“, sagte sie abrupt, um Distanz zu wahren, denn die Wände schienen angesichts seiner Präsenz zusammenzurücken, je länger sie mit ihm in diesem Raum war. „Aber Sie sind auch nicht von außerhalb.

Oder?“

Er schüttelte vage den Kopf. „Ich bin in Alaska geboren und nördlich von Fairbanks aufgewachsen.“

„Ach? Wie heißt Ihre Familie denn?“, fragte sie und versuchte, einen Plauderton anzuschlagen, auch wenn es eigentlich als Verhör gemeint war.

Er blinzelte, schloss nur einmal langsam seine bemerkenswerten Augen. „Die kennen Sie sowieso nicht.“

„Sie würden sich wundern, wie viele Leute ich kenne“, sagte sie umso hartnäckiger nach seiner ausweichenden Antwort. „Testen Sie mich doch.“

Seine breiten Lippen kräuselten sich an den Mundwinkeln. „Ist das eine Einladung, Alex?“

Sie räusperte sich, von seinem anzüglichen Ton aus dem Konzept gebracht, aber noch mehr, weil sich ihr Puls so plötzlich beschleunigte, als er die Frage zwischen ihnen verhallen ließ. Dann kam er auf sie zu, schlenderte lässig auf seinen langen Beinen bis auf Armeslänge zu ihr hin.

Gott, der Kerl war atemberaubend, besonders so aus der Nähe.

Sein schmales Gesicht hatte spitze Winkel und starke Knochen, seine schwarzen Brauen und Wimpern bildeten einen reizvollen Kontrast zu der winterlichen Farbe und der wachen Intelligenz seiner Augen, die an den Augenwinkeln leicht schräg geschnitten waren. Wolfsaugen. Die Augen eines Jägers.

Alex fühlte sich in ihnen gefangen, als er sogar noch näher kam. Sie spürte die Hitze seiner Hand auf ihrer, dann einen festen, aber sanften Druck, als er ihr vorsichtig die Pistole aus den Fingern nahm.

Er hielt sie ihr in der offenen Handfläche hin. „Die brauchen Sie nicht, das verspreche ich Ihnen.“

Als sie ihm stumm die Waffe abnahm und sie in das Rückenholster steckte, schlenderte er zum Sofa hinüber und steckte das fiese gezackte Jagdmesser in die Scheide, das oben auf seinem Ledersack lag.

„Es muss ziemlich hart für Sie gewesen sein, als Erste zu sehen, was hier passiert ist.“

“Es war kein guter Tag für mich“, sagte sie, in etwa die Untertreibung des Jahres. „Die Toms waren nette, anständige Leute. Sie haben nicht verdient, so zu sterben. Niemand hat so etwas verdient.“

„Nein“, antwortete er nüchtern. „So einen Tod hat niemand verdient. Nur die Tiere, die Ihren Freunden das angetan haben.“

Alex sah ihn an, als er den Deckel über seiner tödlichen Munition schloss und die Schachtel zurück in den Sack steckte. „Ist es das, was Sie hergeführt hat - mit all diesen Waffen? Hat jemand aus Harmony Sie angeheuert, um herzukommen und ein unschuldiges Wolfsrudel abzuknallen? Oder sind Sie auf eigene Faust hier, um eine Jagdprämie zu kassieren?“

Mit schief gelegtem Kopf sah er zu ihr hinüber. „Mich hat keiner angeheuert.

Ich bin einer, der Probleme löst. Das ist alles, was Sie wissen müssen.“

„Prämienjäger“, murmelte sie, gehässiger, als vermutlich klug war. „Was hier draußen passiert ist, hatte mit Wölfen nichts zu tun.“

„Das haben Sie auch gestern Abend auf dieser Versammlung gesagt.“ Seine Stimme war ausdrucksloser, als sie sie bisher gehört hatte. Und als er sie ansah, tat er es mit einer so forschenden Intensität, dass sie instinktiv einen Schritt zurückwich. „Niemand hat Ihnen geglaubt.“

„Und Sie?“

Dieser harte silberne Blick bohrte sich noch tiefer in sie - wenn es überhaupt noch tiefer ging. Es war, als könnte er mitten in sie hineinsehen, bis ganz hinab zu den Erinnerungen, die sie nicht ertragen konnte. „Erzählen Sie mir, was Sie wissen, Alex.“

„Sie meinen den Fußabdruck, den ich draußen gefunden habe?“

Fast unmerklich schüttelte er den Kopf. „Auch den Rest. Wie können Sie so sicher sein, dass es keine Tiere waren? Haben Sie den Angriff mit angesehen?“

„Nein, Gott sei Dank nicht“, antwortete sie schnell.

Vielleicht zu schnell, denn er kam mit finsterer Miene einen Schritt auf sie zu, maß sie mit Blicken.

„Was ist mit dem Video? Gibt es noch mehr davon, außer den Aufnahmen nach den Morden?“

„Was?“ Alex' Verwirrung war echt. „Was für ein Video? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“

„Vor drei Tagen hat jemand hier draußen mit einem Handy ein Video aufgenommen und es auf eine illegale Website eingestellt.“

„Oh mein Gott.“ Entsetzt hob Alex die Hand an den Mund. „Und Sie haben es gesehen?“

Der zuckende Muskel in seiner Wange war Bestätigung genug. „Wenn Sie mehr über diese Morde wissen, müssen Sie es mir erzählen, Alex. Es ist sehr wichtig, dass ich alle Informationen habe, die ich kriegen kann.“

Letzten Abend bei der Bürgerversammlung war Alex versucht gewesen, einfach mit allem herauszuplatzen, was sie wusste - doch jetzt, als sie allein vor diesem Fremden stand, der sie auf so unerklärliche Weise bis in ihr Innerstes erschütterte, blieben ihr die Worte im Hals stecken. Sie kannte ihn nicht. Sie war überhaupt nicht sicher, ob sie ihm trauen konnte, selbst wenn sie tatsächlich irgendwie den Mut aufbringen sollte, ihre dunkelsten Vermutungen ans Licht zu zerren.

„Warum sind Sie wirklich hier?“, fragte sie ihn leise. „Was suchen Sie?“

„Ich suche Antworten, Alex. Ich glaube, wir beide suchen dasselbe - die Wahrheit. Vielleicht können wir einander helfen.“

Das scharfe Piepen von Alex' Handy unterbrach die Stille, die sich zwischen ihnen auszudehnen begonnen hatte. Es klingelte wieder und gab ihr die Entschuldigung, die sie brauchte, um ein paar Schritte Distanz zwischen sich und diesen Mann zu bringen, dessen bloße Präsenz alle Luft aus dem Raum zu saugen schien. Alex wandte sich von ihm ab und nahm den Anruf entgegen.

Es war Jenna, die anrief, um sie daran zu erinnern, dass sie sich am heutigen Abend bei Pete's zum Abendessen treffen wollten. Alex murmelte hastig eine Bestätigung, blieb aber am Telefon, nachdem Jenna sich schon verabschiedet und aufgelegt hatte. „Klar, kein Problem“, sagte Alex in den stummen Apparat.

„Ich bin unterwegs. In maximal zwanzig Minuten bin ich da. Alles klar. Okay, tschüss.“

Sie stopfte das Handy in die Anoraktasche und drehte sich zu Lunas neuem Lieblingsmenschen um, der sich inzwischen auf dem Sofa niedergelassen hatte, mit Alex' Hund zu seinen Füßen. „Ich muss los. Ich habe vor Sonnenuntergang noch eine Liefertour zu machen, und dann bin ich in der Stadt zum Abendessen verabredet.“

Inzwischen konnte sie kaum erwarten, hier wegzukommen, aber warum hatte sie das Gefühl, dass sie sich diesem Kerl gegenüber rechtfertigen musste? Ihm konnte doch egal sein, warum sie es jetzt so eilig hatte, hier wegzukommen.

Alex schnippte leise mit den Fingern und rief Luna. Man musste der Wolfshündin zugutehalten, dass sie herübergetrottet kam, ohne absolut untröstlich zu wirken, weil man sie von ihm weggerufen hatte.

„Ich werde Officer Tucker wissen lassen, dass Sie heute hier waren“, fügte sie hinzu. Es konnte nicht schaden, ihn wissen zu lassen, dass sie gute Beziehungen zur Polizei hatte.

„Tun Sie das, Alex.“ Er fläzte nach wie vor auf dem Sofa des alten Toms und machte keine Anstalten aufzustehen. „Seien Sie vorsichtig da draußen. Man sieht sich.“

Alex entging das Grinsen nicht, das sich langsam auf seinem Gesicht ausbreitete, als sie Luna am Halsband nahm und mit ihr zur Tür der Blockhütte ging. Obwohl sie nicht wagte, sich umzusehen, spürte sie diese Quecksilberaugen noch hinten im Nacken, als sie mit Luna auf ihr Schneemobil sprang und den Motor anließ. Sie war schon ein paar Hundert Meter gefahren, als sie aus heiterem Himmel ein Gedanke traf.

Sie hatte nirgendwo in der Nähe einen anderen Schlitten gesehen.

Also wie zum Teufel hatte er bloß die vierzig Meilen aus Harmony hierher geschafft, den ganzen Weg durch die Wildnis?

Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
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